Aggregatzustände des Realen: Fluide Zukunft und ein verändertes Nachdenken über kommende Zeit
Dieser Aufsatz widmet sich der Zukunft, dem Nachdenken über Zukunft. Vorausgesetzt, es gibt nicht die eine, sondern mehrere theoretisch mögliche Zukünfte, die heute schon angezettelt werden können, dann würde über „die Zukunft“ zu schreiben heißen, dasjenige in den Blick zu nehmen, was für alle Zukünfte gleich ist und sich auf das Wenige beschränkt, was man über sie wissen kann. Das ist nicht gerade viel und deutlich weniger als das, was man nicht wissen kann, was aber nichtsdestotrotz in unzähligen Szenarien und Modellen an möglicher Zukunft bereits angehäuft worden ist (wohin eigentlich damit?).
Es ist aber genug, um von dort ausgehend ein anderes Verständnis des Zukünftigen auszuprobieren, ein Nachdenken, das geeignet erscheint, der möglichen Zerbrechlichkeit von Zukunft schon im initialen Gedanken an sie Rechnung zu tragen.
credits: Jules Buchholtz
My Flexible Friend
Ist Zukunft fragil? Gibt es einerseits fragile Zukünfte und daneben solche, die unzerbrechlich sind? Zukunft für fragil zu halten, kann zu unterschiedlichen Zielsetzungen und Vorhaben mit künftiger Zeit führen. Eine derzeit gängige Konsequenz ist, Ressourcen zu sparen, wo es möglich ist, während des eigenen Lebens so wenig Energien wie möglich zu verbrauchen und dafür Sorge zu tragen, für künftige Zeit genügend Versorgungsquellen zu bewahren. Das ist vernünftig und spricht für eine Geisteshaltung der Nachhaltigkeit, die auch ganz unabhängig von dem eigenen wirklichen Verhalten selbst konsumfähig geworden ist. So findet sich diese Einstellung z.B. dort wieder, wo ein echter Verbrauch an eine (gleich mitkonsumierte) Haltung gekoppelt wird: z.B. wenn Schuhe, die, weil sie anteilig aus recyceltem Material gefertigt sind, eine „bessere Zukunft“ herbeiführen. Unabhängig von solchen Erscheinungen der Warenförmigkeit von individuellem Handeln kann man diese Einstellung als vorsorgliches Teilen verstehen. Oder als eine spezielle Art des Erhaltens. Um verantwortungsvoll zu handeln, bedarf es der Betrachtung von Zukunft aber überhaupt nicht. Denn sie erschließt sich bereits aus dem Gegenwärtigen: aus gemachten Erfahrungen, der Beobachtung von Verbrauch, Stoffwechsel, Endlichkeit und der Tatsache, dass z.B. geschlafen werden muss und währenddessen nichts zusammengerafft, verzehrt, gestohlen oder überbeansprucht werden kann.
Wozu also Zukunft? Zukunft wird, so scheint es, trotzdem überall dringend benötigt. Wenn etwa von Zukunftstechnologien oder Werkzeugen die Rede ist, ohne die man künftig nicht meint auskommen zu können. So veranlasst z.B. Digitalität dazu, die Verwendung von Papier und auch die Indienstnahme menschlichen Personals in der öffentlichen Verwaltung schnellstmöglich zu reduzieren, auch wenn das Gespräch mit einer Maschine, von Ausnahmen abgesehen, meist deutlich weniger anmutig erscheint als mit einem Menschen.
Was solche bereits sichtbaren Trends anbelangt, ist Gegenwart immer schon von Zukunft durchzogen, bzw. die Trennlinie zwischen beiden Intervallen ist verschiebbar und eigentlich gar nicht da – so wie die Wasserlinie im Wattenmeer. Dennoch scheint beide Zeitintervalle zumindest getrennt zu denken, irgendwie doch nötig – nötig um zu vermitteln. So genügt es selten, auf gegenwärtige Fehler im System, verquaste Zweck-Mittel-Relationen oder historische Vorkommnisse abzustellen, um einen Plan mit der nahen Zukunft – als gedachte, verlängerte Gegenwart zu begründen. Um Veränderungsprozesse (die nicht von selbst passieren, etwa Kaulquappe/ Frosch) plausibel zu machen, müssen Übertritte, Transgressionen, Fringes, Passagen und Transformationen anhand einer zumindest gedachten Linie erkennbar, d.h. sichtbar gemacht werden können. Wie sonst sollte eine selbst schon in ständigem Wandel befindliche Gegenwart überhaupt als gegenwärtig wahrgenommen werden können?
Damit MySpace, Facebook, die Schreibmaschine, Bargeld und alles Analoge außer Kuchen, Krankheit und Drogen – denn gestorben und gegessen wird immer noch wie damals – überholt oder überwunden werden kann, benötigt man Zukunft; genauer: eine Idee von Zukunft oder ein Bild von ihr. So ist inzwischen auch die Revolution selbst gestrig geworden. Reste von ihr finden sich noch in bestimmten saisonalen Erscheinungen des Aufruhrs, die aber meist rasch von der nächsten, dann gar nicht mehr so revolutionären und auch anders gefärbten Jahreszeit eingeholt werden. Ist auch okay, weil ja ständig Revolutionen stattfinden, nur eben woanders und meistens dort, wo in Aussicht steht, Leben durch Technik bequemer oder länger zu machen. Diese Revolutionen markieren dabei eine Form von Zukunftsdenken, das in der Transformation (wohlgemerkt in der Transformation, nicht in der Metamorphose) selbst Verbesserung erkennt und in dem real-defizitären Heute immer schon ein Morgen zu erkennen meint – ein Ideal, auf das hinzuarbeiten ist. Das ergibt natürlich dann besonders viel Sinn, wenn gehofft werden kann, dass sich mit den jeweiligen Zukunftsindustrien gegenwärtig schon etwas verdienen lässt (das ist extra so).
Wenn Zukunft nicht nur zu Unterhaltungszwecken projiziert wird (Utopien bilden hier eine Sonderform des Zukunftsdenkens und werden aus den hier angestellten Überlegungen ausdrücklich ausgeklammert), kommt sie als ein Gegenstand vor, der genau wie jeder andere hergestellt werden kann. Je nachdem, ob es sich dabei um Realitäten handelt, die erwünscht oder unerwünscht sind, wird entweder verhindernd oder anbahnend – jedenfalls interventiv an ihr gearbeitet; interventiv, weil die prospektive Denklogik Zukunft nicht als etwas betrachtet, das einfach geschieht, sondern in dessen Herausbildung eingegriffen werden kann und soll - meistens aber muss. Eingedenk der Vielzahl an Reklamationen, unbedingt das eine jetzt tun zu müssen, täte die Zukunft gut daran, nicht besonders fragil zu sein, sondern zugleich flexibel und robust – also resilient.
The Real Irreal
Daraus ergibt sich eine wohl keinen anderen Gegenstand derart stark kennzeichnende Struktur des realen Irrealen. Das Reale, also der nach Jaques Lacan undarstellbare, nur erfahrbare Teil des Wirklichen in einer zerstörerischen Signifikanz spielt hier nur eine Nebenrolle. Aber der Aspekt der Undarstellbarkeit und mithin der Unmöglichkeit, etwas nur bedingt Verfügbares, symbolisch in Sprache oder Bild zu fassen und zu übersetzen, trifft auf künftige Realitäten ebenso zu wie auf das Reale: Beide entziehen sich dem Zugriff durch Wissen oder Repräsentation.
Die Versuche, Zukunft zu zeigen, meist auch in einer Dimension des Schreckens (worst case), in der dann auch das zerstörerische „Reale“ versucht wird, als visuelles Kapital unheilvoller kommender Zeit zu nutzen, häufen sich indes. Zukunft ist zu einem ubiquitären Ideologem geworden, das so mächtig ist, dass kaum ein Produkt noch ohne den Hinweis auskommt, mit seinem Erwerb einen Beitrag für eine „bessere Zukunft“ zu leisten.
Insofern Zukunft in den Visionen kommender Zeit als etwas Produzierbares erscheint, das aus der Gegenwart heraus entwickelt werden kann, erschließt sich Zukunft als in einem zentralen Sinne so real wie irreal: Sie bleibt entzogen und unverfügbar, unsicher, ungewiss und irreal, nimmt sich aber als einzig steuerbares Zeitintervall als extrem bedeutsam, handlungsleitend und damit besonders real aus. Ein eigentlich unerschließliches Terrain wird so zu einem Gebiet erklärt, mit dessen Kartierung, Inbesitznahme, Bebauung und Nutzung bereits heute begonnen werden kann.
Außer spekulativ-realistischen oder utopischen Erwägungen gewidmet, heißt Zukunft zu denken deshalb: etwas vorhaben! Also etwas, das gegenwärtig schon gemacht wird, auch weiterhin tun zu wollen, oder etwas, das künftig getan werden soll, heute schon zu planen, z.B.: das Meta-(ha-ha!)-verse. Schön auch: Durch solche Konkretionen wird Zukunft qualifizierbar, und das eben noch neutrale Mögliche lässt sich (das ist extra so) in Chancen und Risiken sortieren und in künftigen Margen darstellen.
credits: Jules Buchholtz
Clotted Time
Zukunftsüberlegungen sind also eher selten neutral, sondern eng verbunden mit Implikationen, die sich aus gegenwärtigen konkreten Absichten, sprich: Interessen ergeben. Lernen an der Zukunft tritt somit allzu oft in Erscheinung als eigentlich eine Technik der interessengemäßen Beeinflussung von Gegenwart, um Zukunftsgeschehen zu kontrollieren, bzw. Zeit zu okkupieren.
Eine solche Art des Zukunftsdenkens, das aus der Gegenwart heraus konkrete Zukunft anzubahnen sucht, kann, wie oben erwähnt als prospektiv-interventive Denklogik begriffen werden. Im Gegensatz dazu erscheint innerhalb eines nicht-interventiven Zukunftsdenkens kommende Zeit als fluides Potentielles, als interessenunabhängiges, gestaltloses bloß Mögliches, von dem eigentlich nur sicher ist, dass es unsicher ist.
Die sehr viel üblichere prospektiv-interventive Denklogik, die eventuell sogar eine verpflichtende Einflussnahme auf Zukunft vorsieht, setzt voraus, noch nicht zu Ereignissen erstarrte, fluide Zeit auf Problemfelder (oder Claims) zu kondensieren, damit das Ideal der Zukunft (oder häufig auch der worst case) sichtbar wird. Zeit muss dazu gebracht werden, zu gerinnen, so wie Milch zu Käse. Von beiden Denkvarianten die prospektiv-interventive zu wählen, bedeutet mithin, etwas Fluidem – z.B. Milch (ob vegan oder tierischen Ursprungs) – eine mindestens löffelbare Qualität (Quark oder Hüttenkäse) vorzuziehen, sich Milch also in einem Zustand vorzustellen, da bereits an ihr gearbeitet worden ist. Der je fortschreitende Gerinnungsgrad der projizierten Milch erlaubt dabei, gegenwärtig bereits zu entscheiden, ob man sie eher streichfähig oder schnittfest zu sich nehmen – jedenfalls aber, dass man sie haben will.
Liquid Space
Generell fällt eher schwer, sich den Verlockungen von künftigem Käse zu entziehen und nicht prospektiv-interventiv über die Zukunft nachzudenken, gibt doch eine krisengebeutelte Gegenwart kaum Anlass dazu, irgendwie passiv zu bleiben. Ist Vorausschau also überflüssig? Vielleicht nicht ganz, und um noch etwas beim Aggregatzustand des Liquiden zu verweilen: Die Zukunftsmilch für den Moment flüssig (sie verfestigt sich ohnehin von ganz allein) zu belassen, Milch also Milch sein (bzw. in Ruhe) zu lassen, mündet nicht notwendigerweise in Passivität.
Nur weil auf das Entwerfen von Zukunft verzichtet wird, heißt das nicht, Zeit ziellos zu vergeuden. Im Gegenteil: Spekulationen darüber, was unter welchen Voraussetzungen wie kommen wird und mithin einen Verbrauch gegenwärtiger Zeit, wie auch eine Inanspruchnahme künftiger bedeutet, bringt beide Zeitintervalle in einen nicht immer glücklichen Kausalzusammenhang, bzw. in einen Konflikt. Die Gegenwart, zu deren Lasten Prospektion meistens geht, muss sich nämlich den künftigen Belangen in aller Regel fügen.
Darüber hinaus gerät die Zukunft schon insofern in eine vorteilhaftere, d.h. sie begünstigende Position, als sie auf das Gegenwärtige nicht nur übergreift, in es hineinwächst, sondern indem Zukunft ab dem Moment, da ihre Herbeiführung oder Abwendung notwendig erscheint, Aggregationen bildet – vergleichbar den Agglutinierungen, die sich in Milch bilden, die im Begriff ist, zu Käse zu werden. Antizipierte Zukunft, die aus der Gegenwart heraus gesehen wird, realisiert sich bereits dadurch, dass sie vom Zustand des Potentiellen in den des Faktischen überführt wird und durch das Ergreifen entsprechender Maßnahmen an ihrer Herbeiführung oder Abwendung gearbeitet wird. Die eine oder andere Zukunft ist dadurch als sehr viel realer zu werten, als so manche gegenwärtige Absicht, die dann doch nicht umgesetzt wird (siehe the real irreal).
Eine Orientierung am Gegenwärtigen kann jedoch wider Erwarten durchaus produktiv, proaktiv und effizient sein. So bedeutet auf Zukunft zu verzichten, bzw. darauf, sie trotz ihrer unüberschaubaren Komplexität in Gänze vorherzusehen, einen Zeitgewinn. Eingespart wird der Teil, der sonst darauf verwendet werden würde, sich mit zukünftigen Belangen zu beschäftigen und zu monetarisieren. Daneben sind Prognosen mit einer Vielzahl von schwierigen und zeitintensiven Fragestellungen und Abwägungen (die übrigens nicht immer unternommen werden) verbunden. Diese reichen die von der Erteilung von Entscheidungsbefugnissen über die Vorrangigkeit der Ziele bis zu später gestellten Verteilungsfragen. Zusätzlich entfällt auch der zweifelhafte Akt, Zukünfte schon aus dem Gegenwärtigen heraus in Besitz zu nehmen, eine Form von Appropriation, die kaum je in den Blick kommt.
Darüber hinaus und vielleicht in erster Linie problematisch erscheint, dass es eher schwierig ist, die vermeintlich bessere Zukunft aus der Gegenwart heraus überhaupt zu erkennen. Denn Zukunft zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie unsicher ist, noch flüssig und in diesem Sinne eben nicht gänzlich zu entschleiern. Sie ist ein Gegenstand, aus dem kein Wissen gewonnen werden kann; zumindest keines, das im herkömmlichen Sinne evident wäre. Auch wenn Vorausberechnungen, z.B. Modelle und Szenarien inzwischen zu veritablen Instrumenten der Evidenzerzeugung avanciert sind, und auch wenn sie oft so behandelt werden, als könnten sie zur Bestimmung einer sicher eintretenden Lage verwendet werden: Modellierungen besitzen keine prognostische Aussagefähigkeit und sind somit auch nicht geeignet, um hochkomplexes Geschehen vorherzusehen. Eine Schlussfolgerung daraus (man mag sie teilen oder nicht) könnte vorläufig wie folgt lauten:
Die Zeit ist das reine Werden, als angeschaut. Die Zeit das reine Verändern, sie ist der reine Begriff, das Einfache, das aus absolut Entgegengesetzten harmonisch ist. Ihr Wesen ist, zu sein und nicht zu sein, und sonst keine Bestimmung, - rein abstraktes Sein und abstraktes Nichtsein in einer Einheit und geschieden. Nicht, als ob die Zeit ist oder nicht ist, die Zeit ist dies, im Sein unmittelbar nicht zu sein und im Nichtsein unmittelbar zu sein. (…). In der Zeit ist nicht das Vergangene und Zukünftige, nur das Jetzt; und dies ist, um nicht zu sein, ist sogleich vernichtet, vergangen,- und dieses Nichtsein schlägt ebenso um das Sein, denn es ist1.
Zu diesem Rat mag Hegel aufgrund der folgenden Beobachtung gelangt sein, die etwas mit der schon genannten Schwierigkeit zu tun hat, heute schon sehen und bewerten zu wollen, was morgen kommt:
Als der Gedanke der Welt erscheint sie (Philosophie) erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, dass erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfasst, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut.2
Milch als Emulsion aus Raum und Zeit in flüssigem Zustand müsste gemäß dieser Auffassung also wirklich schon zu Käse geworden sein, um wirklich feststellen zu können, ob ihr schnittfähiger Zustand wirklich die ideale Konsistenz darstellt. Nicht aber, so lässt sich aus dem Zitat weiter folgern, sollte anhand des Reifegrades von eingebildetem Käse, ein Interesse an ihm und der Etablierung seiner Herstellungssysteme entwickelt werden.
Weil sich ob der Käse ideal ist, erst feststellen (und qualifizieren) lässt, nachdem er gegessen ist, hilft uns ein eingebildeter nur wenig weiter. Schlimmer noch: was, wenn alle dafür gewesen sind, Brie zu machen und sich später herausstellt, dass eine andere Sorte doch bevorzugt wird, z.B. weil sich die Vorlieben geändert haben oder eine bestimmte Zutat aus verschiedenen Gründen nicht mehr in Frage kommt? Zum Zeitpunkt dieser Feststellung wird bereits sehr viel Zeit, Material und Energie darauf verwendet worden sein, das gestern noch Ideale, inzwischen aber für falsch Befundene anzubahnen. Und noch mehr Zeit wird aufgewendet werden müssen, um das erstarrte und sperrig gewordene Falsche wieder loszuwerden (siehe Schreibmaschinen, Benzinmotoren, Legebatterien, Facebook, Plastik, Kakao, Elektroautobatterien, CDs, etc.).
credits: Jules Buchholtz
Umgangsformen und Umgehungen (Umbaumaßnahmen?)
Wie dies auch auf die Rechtwissenschaften, auf die Hegel sich in dem o.g. Zitat bezieht, zutrifft, weil die Rechtskonformität einer Handlung nur festgestellt werden kann, nachdem sie passiert ist, hat u.a. Karl Popper in Bezug auf die Gewinnung „objektiven Wissen“, vorgeschlagen, Wissen auf praktischem Wege zu gewinnen. Ist nicht bekannt, wie einer Lage gemäß wohl zu verfahren ist, soll einer bestimmten Vermutung gemäß (take an educated guess!) gehandelt werden.
We learn about our environment not through being instructed by it, but through being challenged by it: our responses (and among them our expectations, or anticipations or conjectures) are evoked by it, and we learn through the elimination of our unsuccessful responses- that is, we learn from our mistakes.3
Es soll ausprobiert und eine Erfahrung gemacht werden, damit danach bewertet werden kann, ob die Idee gut war – mit anderen Worten: Wissensgewinnung als Lernen aus Fehlern. Hier wäre etwa an Luftschiffe zu denken: Der Hindenburg-Katastrophe wegen sind Zeppeline in der Folge als gebräuchliche Verkehrsmittel nie wieder wirklich in Frage gekommen, während zahlreiche Havarien indes nicht dazu geführt haben, auf Öltanker zu verzichten; im Gegenteil: sie kommen gerade wieder richtig in Mode. Selbiges gilt für Digitalität: die in der Summe unermesslichen Schadwirkungen, die die flächendeckende und unentrinnbare Implementierung dieser Technologie unentwegt anrichtet und die aus Datenklau, Vorratsdatenspeicherung, gejammten GPS-Systemen etc. entstehen, führen an keiner noch so essentiellen Position etwa dazu, auf Digitalität zu verzichten.
Um den allgemeinen Nutzen von Zukunftstechnologien zu beglaubigen, werden also offenbar völlig unterschiedliche Kriterien, die mal stärker und mal schwächer ins Gewicht fallen, ins Feld geführt. Diese evidenten Inkonsistenzen in den Bewertungen dessen, was als zukunftweisend oder gestrig gilt, liefern einen Hinweis darauf, dass dem, was als „die Zukunft“ gilt, obskure Aushandlungsprozesse zugrunde liegen müssen. Wo diese geführt werden, ist unklar, um welche Zukünfte es geht, meist sehr klar. Somit werden sozial- und geisteswissenschaftlichen sowie medienphilosophischen Hinweisen wie den soeben angeführten zum Trotz die Versuche vorherzusehen, was uns in naher oder ferner Zukunft ereilen könnte bzw. sicher wird, ungehindert fortgesetzt. Geht es nach denen, die die Zukunft zu kennen vorgeben, müssten wir uns von der bei Hegel und Popper anklingenden und dort als sowohl unvermeidlich, aber auch bisweilen nützlich identifizierten Posterität, von der alles Handeln – ob man nun will oder nicht – geprägt ist, befreien und das Dunkelfeld der unsicheren Zukunft erhellen, Unsicherheit beseitigen und Zukunft schaffen, sichern und vorher aber schon als imaginierte quasi-Erinnerung an ein Morgen, das es noch gar nicht gibt, servieren.
You can’t eat the cake and have it
Dabei lehrt Vergangenheit – und dazu zählt ihrer ständig von Verschleiß und verstreichender Aktualität bedrohten Angefressenheit wegen auch die Gegenwart – dass alles für richtig Gehaltene auch ebenso gut eklatant falsch sein kann. Wiewohl also die Gegenwart als Lernumgebung fast so gut ist wie das Metaverse, wird offenbar trotzdem noch etwas benötigt, um die Orientierung an Zukunft als allgemein kulturpraktisches Vorgehen weiter zu etablieren.
Ersetzen wir den Käse für einen Moment durch Kuchen, den man dank einer prospektiv-interventiven Denklogik sowohl haben, als auch essen kann. Das ist so, weil zeitglich an ihn und daran gedacht werden kann, bereits von ihm satt geworden zu sein, bzw.: man kann den Kuchen haben, während gleichzeitig der Anspruch darauf ihn in Zukunft auch zu essen, in dem Maße realistischer erscheint, wie man über Wissen und Mittel zu verfügen meint, um ihn zu backen. Je mehr (dazu auserkorener) Verkündungsinstanzen mit dem Backen anfangen, desto deutlicher wird der Zukunftskuchen als halbgares, aber eben alternativloses Gebäck im Gegenwärtigen Gestalt annehmen. Dabei versperrt er natürlich die Sicht auf Kekse, Krümel und anderes Gebäck, das so nicht mehr in den Blick und damit auch nicht länger in Frage kommt. Daraus ergibt sich zum einen die (hier unbeantwortete) Frage, woher eigentlich alle wissen, dass sie auch wirklich möchten, was sie zu wollen meinen. Zum anderen wird unabweislich, das bloß Mögliche vorgreifend zu qualifizieren und zwar danach, ob es nützlich ist oder nicht (hier sind die Interessen freilich divers). Und es zeigen sich sofort Begehrlichkeiten: wer will alles mitessen? Welche Vorlieben, Unverträglichkeiten und ästhetisch-geschmacklichen Motive gibt es? Vor wem muss der Kuchen versteckt werden? Was, wenn jemand ihn riecht, noch bevor man selbst gegessen hat?
Während also in der Zukunft der Kuchen zur gleichen Zeit gehabt und auch gegessen werden kann, gilt für das Gegenwärtige, dass zu essen unweigerlich zur Beschädigung dessen führt, was man besitzen will. Hier kommt nun die prospektive Denklogik ins Spiel, dank der auf das eine nicht um des anderen Willen verzichtet werden muss: So denke man sich entweder einen Kuchen, von dem ungewiss ist, ob es ihn je geben wird, oder einen, von dem man jetzt schon weiß, dass es ihn nie geben wird, weil man nur behauptet ihn backen zu wollen, es aber nicht tun wird (the cake is a lie!). In künftigen Kuchen oder Käse kann also gegenwärtig investiert werden, weil das imaginierte künftige Endprodukt – anders als Milch – sofort ein handlungspraktisches Realisat im Gegenwärtigen bildet: nämlich in Gestalt der Entscheidung, Milch im Rahmen einer mehr oder minder aufwändigen und kunstvollen Prozedur durch Zugabe von u.a. Zeit und Gerinnungsmitteln dazu zu bringen, dass sie stockt – und zwar bis zu dem Grad, auf den die Investierenden und künftig Beteiligten sich geeinigt haben.
Halten wir fest: Mit dem Machen von vorgestelltem Käse kann begonnen werden, obwohl ungewiss ist, ob es ihn in der vorgestellten Form je geben wird (Risiko). Für den Fall, dass es den Käse später wirklich gibt (für wen?), wird profitiert (Chance). Verändert wird in jedem Fall die Milch, und für den Fall, dass sich später zeigen sollte, dass der Käse keinem schmeckt (außer denen, die nie eine Wahl hatten – das ist extra so!), wird sich als fatale Strategie erweisen, mit dem Käse überhaupt angefangen zu haben. Aber das ist man gewohnt: Ohne Stuss kein Fortschritt (siehe MySpace).
Ownership of Future
Künftige Realitäten zu produzieren oder die zu unternehmenden gegenwärtigen Veränderungen aus projizierten Realitäten abzuleiten, kennzeichnet außerhalb der signifikanten Praktiken jeden Anspruch an Zukunftsgestaltung. Da Zukunft aber wie gesehen die Eigenschaft hat, nicht zu erscheinen, ehe sie da ist und sich „fertig gemacht“ hat, bedarf sie in einem essentiellen Sinne der Veranschaulichung (der Käse muss versprochen werden!). Zukunft als immer nur Verheißung oder Warnung muss also in irgendeiner mehr oder minder belastbaren Form zunächst prophezeit, vorhergesehen oder prognostiziert werden, kurz gesagt sichtbar werden, um überhaupt zu einem Gegenstand der Auseinandersetzung zu werden. Es braucht also Narrative, um die Kolonisierung von Zukunft zu plausibilisieren. Sie sind wichtig, damit eine Investition in Zukunft realistisch erscheint. Aus dem eben dargelegten Zusammenhang zwischen eigentlich fluiden Zeit-Raum Gefügen, die Aggregationen bilden, die ihrerseits zu weiteren Investitionen verlocken, leitet sich ab, dass die Realisierungen der einen oder anderen Zukunft im Gegenwärtigen begonnen werden (müssen). Daran orientieren sich selbstverständlich auch Besitzansprüche, also Claims und Nutzungsrechte an gegenwärtig angebahnten Produkten.
Mit der Zukunftsforschung, den Future Studies und der Futurologie (nicht Utopieforschung!) sind „Disziplinen“ auf den Plan getreten, die die weiter oben mit Hegel und Popper angesprochene Posterität auszugleichen versprechen. Sie sollen Anhaltspunkte, Daten oder sogar „Zukunftswissen“ liefern, um schädlichen, unerwünschten Zukünften auszuweichen oder diese zu verhindern. Mit eingetretener Zukunft müsste dann nicht umgegangen werden (preparedness), weil man sie verhindert (prevention) und bereits durch eine vermeintlich bessere ersetzt hätte: Kämpfe um Vorrangigkeit von Zukünften sind programmatisch.
Narrative und Szenarien haben im Wesentlichen die Funktion, Wege vom Heute ins Morgen zu zeigen und mögliche Ereignisverläufe zu veranschaulichen, um daraus Handeln abzuleiten4, wie dies aus Risikoanalyse, Trendforschung und Datenjournalismus bekannt ist. Sie dienen dort meist dem Wissenstransfer, der Überbrückung intellektueller Distanzen sowie der Supplementierung von unterschiedlichen Formen des Nichtwissens durch Ersatzwissen. Als Verschmelzung modellierter und empirisch darstellbarer Daten bilden Szenarien interessante Formulierungen von Zukunftswissen. In ihnen wird Letzteres aus Daten und herrschender Lage einerseits ermittelt und zeitgleich veranschaulichend vermittelt. Dabei besteht für das Szenario in der visuellen oder theatralen Ausgestaltung der Kausalbezüge zwischen gegenwärtigen und künftigen Entwicklungen ein nahezu unbegrenzter Zugriff auf formalästhetische Mittel5. Was das Szenario an Nachweisbarkeit schuldig bleibt, kompensiert es meist mit Kunst; also durch Repräsentation, die den Kurzschluss herrschender und antizipierter Wirklichkeiten visuell leistet. In der Verschneidung imaginierter, fiktiver und wirklicher Anteile entstehen so »fingierte Realitäten«.
Die ersten konkret auf die auf Zukunft bezogenen Verfahren der Wissensgewinnung dieser Art wurden Ende der 50er Jahre u.a. von Herman Kahn, Anthony Wiener und Peter Schwartz entwickelt. Mit meist nicht auf sozial- oder kulturwissenschaftlichen Disziplinen beruhenden Methoden, wie etwa mit der »scenario analysis« sollten künftige Prozesse sichtbar gemacht werden, meist mit dem Ziel, künftige Prozesse zu beeinflussen, bzw. eine kontrollierende Haltung gegenüber der Zukunft zu etablieren, damit nicht die Zukunft uns, sondern wir die Zukunft hervorbringen6.
So sehr der Ansatz, die Zukunft zu beherrschen zumal in Krisenzeiten einleuchten mag, so widersprüchlich erscheint dieser zunächst progressiv wirkende Anspruch. Paradox, weil die vorrangige Orientierung auf die Steuerung zukünftiger Prozesse ja bedeutet, aktuelles Tun (denn nur auf dieses kann Einfluss genommen werden) künftigen Maßgaben unterzuordnen; also nicht Zukunft zu kontrollieren, sondern umgekehrt: Gegenwart von der Zukunft kontrollieren zu lassen. Zukunftsorientierung tritt also in Erscheinung als ein Denkstil, der Zukunft zwar zu kontrollieren sucht, in einem zentralen Sinn jedoch einerseits unweigerlich auf das Gegenwärtige bezogen bleibt und andererseits dem Diktat der Zukunft nie entkommt.
Nebenbei bemerkt kann sich das Argument, Zukunft kontrollieren zu wollen oder zu sollen, sehr leicht gegen die damit konkret verbundenen Ansinnen und Absichten wenden. Nämlich insofern, als ja nie gewusst werden kann, ob nicht die angebahnte Zukunft vielleicht doch nicht so ideal ist, wie angenommen und vielleicht sogar selbst den Ausgangspunkt für irreversible Katastrophen bildet (siehe Käse, der nicht gegessen werden will oder von dem allen schlecht wird). Künftiger Käse hört also nie auf, den Umgang mit gegenwärtiger Milch zu bestimmen; ein Übergriff, der aus dieser Perspektive sehr viel weniger progressiv und eher reaktionär anmutet.
credits: Jules Buchholtz
Future’s Trump-Card/ any Trump’s Future-Card
So gesehen bedeutet mit Zukunft zu argumentieren, eine Trumpfkarte zur Hand zu haben. Denn was könnte bedeutsamer sein, als Zukunft zu gestalten oder zu verbessern? Der immer gegebenen Vorrangigkeit des Zukünftigen verdanken sich auch Denkstile wie technologischer Solutionismus, Techno-Salvation, Transhumanismus und jeder Würde entledigte Phantasien von Weltraumkolonisierung. Für eine prospektiv-interventive Denklogik, die die Produktion von Zukunft zum Ziel hat, ist Sichtbarmachung essentiell. Es muss vorgreifend gezeigt werden, auf welche Zukunft sich die gegenwärtige Aufmerksamkeit zu richten hat, um zu behaupten, dass die Milch unbedingt jetzt zu Käse gemacht werden müsse, weil sie sonst (ganz von selbst) vermeintlich ungenießbar wird. Der Zukunft gewidmetes gegenwärtiges Handeln steht somit stets in einem zunehmend prekären Verhältnis zur Zeit. Denn die Möglichkeiten, Einfluss auf sie zu nehmen, schrumpfen mit fortschreitender Zeit. Die akute Umsetzung auf die Zukunft gerichteter Interessen wird so zu einer dringlichen, notwendigen, ja unausweichlichen Angelegenheit, weil das scheinbar zur Verfügung stehende Zeitintervall sich ständig verkürzt. Die prospektiv-interventive Denklogik verfügt also über einen um das Zukünftige erweiterten und äußerst konsensfähigen zusätzlichen Argumentationsraum, aus dem heraus immer mit künftig beschränkten oder womöglich gar nicht mehr gegebenen Handlungsmöglichkeiten argumentiert werden kann. Absichtserklärungen, die dahingehen, heute schon Zukunft zu produzieren, verfügen somit stets über einen Überschuss an Relevanz.
Matters of Urgency
Während in Wirklichkeit nur die eine Zukunft auch Geschichte wird, gibt es in der Theorie eine Vielzahl von Zukünften, die in Form zeitkritischer Bedeutsamkeit miteinander konkurrieren.
Um das Feld zu ordnen (welcher Käse soll es werden?) müssen manche Zukünfte über das Maß an Relevanz hinaus für vorrangig erklärt werden. Eine i.d.Z. besonders pronouncierte Form der Zukunftsgewandtheit bildet der sog. »Longtermism«; eine Form von Futurologie, der gemäß Risiken in existenziell und verkraftbar differenziert werden, um gegenwärtige Anstrengungen hinsichtlich ihrer Relevanz für die Zukunft zu qualifizieren. Hungersnöte, konventionelle (oder auch Drohnen- oder chemisch-biologische) Kriege und andere Katastrophen lassen sich als marginal klassifizieren hinsichtlich ihres Bedrohungspotentials für den Fortbestand der menschlichen Spezies und gelten daher als in Kauf zu nehmen. Weltraumkolonisierung und die Entwicklung (natürlich freundlicher) KI hingegen avancieren zu Exitstrategien für absolut alles, was kommen könnte (wäre auch möglich, dass es sich um die zwei rührseligsten unter allen denkbaren Narrativen handelt, aber das kann hier nicht beurteilt werden).
Nicht nur also ist die Argumentation mit dem Zukünftigen immer von dem Vorsprung getragen, nur noch jetzt agieren zu können, sondern auch davon, dass womöglich irreversible Katastrophen der Zukunft das Augenmerk weg von einer herrschenden Lage und auf vermeintlich bedeutsamere Ereignisse lenken, die nur mit den entsprechenden Industrien zu bestreiten seien. Demnach wäre es so, dass Hüttenkäse einfach keine Option ist. Er hält nämlich schlicht nicht lange genug, als dass er die im Narrativ des Longtermisms maßgeblicheren künftigen Generationen (und darin die als besonders maßgeblich qualifizierten Individuen) in die Lage versetzte, weiterhin potentiell Käse zu essen. Dass einige bereits heute auf beides verzichten müssen, bedeutet nur, dass heute wie auch morgen dafür gesorgt werden wird, dass sie weiterhin über zu wenig Einfluss verfügen werden, um irgendeine Rolle zu spielen.
Colonizing Futures
Es liegt auf der Hand, dass sich mit solchen Qualifizierungen gegenwärtiges Handeln steuern und Investitionen in die eine oder andere Technologie plausibilisieren lässt. Darüber hinaus mündet der Gedanke Zukunft zu kontrollieren, in zweierlei Formen von Zeitbindung, die auch als Okkupationen bzw. Kolonisierungen verstanden werden können: Um sich unerwünschter Zukunft nicht zu beugen, sondern ihr vorzubeugen, muss erstens ein Anspruch an künftige Zeit geltend gemacht und legitimiert werden. Einer Öffentlichkeit ist überzeugend zu vermitteln, dass und wie Zukunft zu gestalten ist, z.B. indem erklärt wird, dass die Lösung für die künftige Zuspitzung einer schon vorliegenden Situation nur durch ein bestimmtes Vorgehen zu beenden ist. Mit dem antizipierten Käse lässt sich dann der Appetit derer wecken, die zu überzeugen sind, damit mit der Herstellung begonnen werden kann, weswegen Zukunftswissen nicht selten in massenkompatibler Form von Kampagnen vorzufinden ist.
So erscheint beispielsweise Digitalität als faktisch alternativlose Technologie, ohne die menschliches Leben (derzeit) nicht vorstellbar erscheint. Der „Krieg (Kreuzzug) gegen den Terror“ (ausgerufen vom „Westen“ 2001) kennt bis heute keine andere Methode, als den Fundamentalismus in Menschengestalt durch fortlaufende Liquidationen einzelner Individuen oder mit Kriegen gegen als Drahtzieher identifizierte Staaten zu bekämpfen sowie Sicherheit kann dem Anschein nach nur durch lückenlose Sammlung und Auswertung persönlicher (und inzwischen auch physiologischer) Daten gewährt werden. Denn ein einfaches Narrativ braucht eine einfache Lösung, mit der dann auch die Ansätze homogenisiert werden: alle denken sich denselben Käse!
Occupy Present!
Daneben, und dies ist der zweite Aspekt der Kolonisierung, müssen, nachdem die Aufmerksamkeit auf die Katastrophe gelenkt worden ist, gegenwärtige Zeit, Energie und Kapazitäten aufgewendet werden, um der Antizipation entsprechende Maßnahmen durchzusetzen und Claims abzustecken, was ja auch, wie gesehen hinsichtlich daraufhin getätigter Investitionen opportun ist.
So nachvollziehbar und verantwortungsvoll Zukunft sicherndes oder produzierendes Handeln also erscheint, so hegemonial ist die es im Kern prägende Logik. Denn nicht nur steht der Zugriff auf Zukunftswissen nur wenigen offen, es ist überdies nicht möglich, es zu widerlegen [entsprechend hohe Bedeutung kommt der Instanz zu, die über das Zukunftswissen verfügt und es verkündet]. Die Zukunft genießt allein insofern Vorrangigkeit, als ihre Anbahnung oder Verhinderung zeitkritisch ist7. Obwohl also ein einem gegenwärtigen Befund oder allgemein gültigem Prinzip entsprechendes Handeln sachlich richtig sein mag, kommt es womöglich trotzdem nicht zur Anwendung, weil es durch ein als sicher eintretend prognostiziertes Zukunftsereignis und eine daran orientierte, mutmaßlich nur jetzt mögliche Notwendigkeit zur Intervention relativiert wird.
Ein Befund über mögliche [gleichsam für sicher gehaltene] Zukunft eröffnet so die Möglichkeit, eine sich auf geschichtlich vermittelte oder grundsätzlich geltende politische Korrektive stützende Kritik vorübergehend (z.B. für die Dauer der Schaffung von Tatsachen) auszusetzen oder für nachrangig zu erklären. Denn die Äußerung eines partikularen Interesses an der Zukunft – unabschließlich, nicht nachweisbar und dennoch als sicher eintretend prognostiziert – beeinflusst notwendigerweise die Abwägung zwischen prinzipiellen und aktualen Belangen an zentraler Position. Die Steuerungsmechanismen, die den Lauf der Dinge regeln, zerschellen an den Disruptionen, die auch nur eingebildete Ereignisse der Zukunft sofort im Gegenwärtigen auslösen.
Im Sinne der in der prospektiv-interventiven Denklogik gegebenen Möglichkeit, beides zu können – den Käse zu haben und ihn zu essen – realisiert sich die Zukunft bereits in dem Moment, da viele, die die Prognose für wahrscheinlich halten, ihr gemäß performen. Andererseits aber bleibt die Zukunft im Sinne des realen Irrealen immer entzogen und unverfügbar. Für den Käse bedeutet das eine überaus vorteilhafte Position. Denn innerhalb von Aushandlungsprozessen zwischen Möglichem und Bestehendem, die ihrerseits von Artikulationen der Vorrangigkeit getragenen sind, genießt der Käse immer Priorität, insofern es immer zu spät erscheinen kann, ihn noch zu machen.
Say no to the Future!
Über Milch zu sprechen, sollte dazu beitragen, Zukunft anders zu sehen. Sie als etwas zu sehen, das eben nicht gesehen werden kann. Zusammengefasst ist es bisher um Folgendes gegangen: wenn Zukunft in der Tat etwas Zerbrechliches sein sollte (und das weiß niemand von uns), dann wäre es eingedenk der oben gemachten Befunde über die Realisation von Zukunft im Gegenwärtigen ratsam, sie von vornherein behutsamer zu behandeln; also schon im Nachdenken über die Zukunft, nicht allzu rigoros zu verfahren. Denn etwas Solides, Konkretes, das daher belastbar wirkt, zerbricht irgendwann (nach fest kommt ab). Eine konkrete Vision ist daher vielleicht als viel zerbrechlicher zu bewerten, als etwas, das weniger stabil ist, seiner Biegsamkeit wegen aber sehr viel robuster (das ist zum Glück extra so).
Die Macht hinter dem Käse, um den es hier gegangen ist – also die Zukunft – ist ein universal anwendbares und zugleich kostengünstiges Instrument zur Umsetzung eigener Willenserklärungen. Außerdem kann mit der Verheißung von Käse, auch dies ist ein wesentlicher Punkt, den der Aufsatz in den Blick genommen hat, viele dazu gebracht werden, etwas zu tun, zu dem sie eigentlich nicht bereit wären. Das gilt für Wahrheiten ebenso wie für fatale Strategien, unlautere Mittel und politische Einschwörungen, die gemäß der wieder gängig gewordenen Logik, dass der Zweck die Mittel heilige, vermeintlich alternativlosen Zielsetzungen dienen.
Entsprechend folgerichtig erscheint, dass das, was in Regimen Sache der obersten Führungsebene ist, in Demokratien die Zukunft übernimmt. Denn Zukunft ist so flexibel, dass sie denen, die sich in der Position sehen, etwas mit ihr anzustellen, diese Zugriffe gewährt. So jedenfalls, wenn man die Treiber, Trends und Tendenzen betrachtet, denen die Gestaltung von Earth Inc. anheimgestellt wird, das sind fast immer Industrien (das ist extra so). Im Ideologem der Zukunft entfaltet sich (nämlich wie von selbst) alles, was möglich ist, alles, worauf gehofft werden darf, alles was befürchtet werden muss und alles, was notwendig erscheinen könnte. Dagegen mutet das Gegenwärtige, das immer schon angebrochen ist oder im Stocken begriffen, defizitär und transformationsbedürftig an. Wird Zukunft als etwas Fragiles gedacht, so müsste sich aber noch vor allen zu implementierenden handlungsleitenden Manövern zu ihrer Verhinderung oder Herbeiführung ein Umgang mit ihr an dem Befund orientieren, dass sie bei unsachgemäßer Handhabung Schaden nehmen, also zerbrechen kann. Doch wie geht eine solche Behutsamkeit mit der Vehemenz zusammen, mit der die vielen Visionen, Absichten und Claims gegen die Zukunft und die ihnen zuzuordnenden Gestaltungsansprüche vorgetragen werden?
Den jeweiligen Ansprüchen und Zwecksetzungen gemäß ließe sich das Feld schnell sortieren: Alles, was den ökologischen Grundbedingungen alles pflanzlichen, pilzlichen und tierischen Lebens auf physiologischer Ebene schadet (und zwar heute wie gestern) trägt der Fragilität der Zukunft nicht oder nur unzureichend Rechnung. Es könnte weiter differenziert werden, ob zur Erreichung von Zwecken, die diesem Motiv zu entsprechen scheinen, auch ebenso adäquate Mittel eingesetzt werden. Oft zeigt sich (nämlich schon unmittelbar), dass Handlungen, die zwar einem respektablen Zweck dienen, mit Schadwirkungen verbunden sind, die ihren Einsatz eigentlich verbieten müssten.
Darüber hinaus aber würde – und darum geht es in diesem Artikel – ein Umgang mit Zukunft, der „die Idee der Zukunft“8 kritisch betrachtet und Zukunft als etwas möglicherweise Fragiles erachtet, einen veränderten Denkstil bedeuten. Einen Denkstil, der Zukunft als etwas versteht, das überhaupt nicht zu erwerben ist, folglich nicht in Besitz genommen werden kann und wirklich niemandem gehört – auch nicht in Form theoretischen Käses.
Footnotes
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie«. In: Eva Moldenhauer/ Karl Markus Michel (Hg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke in 20 Bänden, (Bd. 18), Frankfurt a. Main: Suhrkamp, S. 329. ↑
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1989): »Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse«. In: Eva Moldenhauer/ Karl Markus Michel (Hg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke in 20 Bänden, (Bd. 7), Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.28. ↑
Popper, Karl (1994 (1972)): » Objective Knowledge. An evolutionary Approach«. New York/ Oxford: Clarendon Press, S. 266. ↑
Medienperformativ ließen sich unter dem Begriff Szenario eine Fülle von Methoden und vielgestaltige Formate versammeln, was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Die Konzentration liegt hier vielmehr auf den Produkten, also dem aus den Antizipationen gewonnen und zum Erscheinen gebrachten Zukunftswissen, das zu Zwecken des Wissenstransfers in Umlauf gebracht und verbreitet wird. Vgl. Buchholtz, Jules (2019): »Wem gehört die Zukunft? Wissen und Wahrheit im Szenario«. Berlin: neofelis. ↑
Szenarien sind Veranschaulichungen meist auf die Zukunft bezogener Ereignisverläufe, die zu Zwecken der Vorausschau und der Entscheidungsfindung herangezogen werden. Zu Begriff und Praxis sowie vier Faktoren der Rezeptionserfahrung mit Szenarien Kohäsivität, Konsekutivität, Affektivität, Immunität. Vgl. Ebd. ↑
Urry, John (2016): »What is the Future?« Polity Press: Malden, MA, S. 2. ↑
Vgl. Koselleck, Reinhart (1995 (1979)): »Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten«. Frankfurt a. Main: Suhrkamp. ↑
Critchley, Simon (2011): »Is Utopianism dead?«, In: The Harvard Advocate, 2011, https://theanarchistlibrary.org/library/simon-critchley-is-utopianism-dead. ↑
About the author
Published on 2023-02-23 11:00