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Sekret: Über ein Trio, das durch Bars tourt, um zu dokumentieren, wie nah du am Wasser gebaut bist

Die Geschichte beginnt in einer Bar. Am Tresen mit drei Gestalten, die so erstmal nicht richtig einzuordnen sind. Sie nennen sich Nachtfalter, Sadgirl* und Fluss. Keine Band, kein Theaterkollektiv, ohne Label. Eher ein wanderndes Tränenarchiv. Gekleidet in Patchworkanzügen, die – wenn man genauer hinsieht – nichts anderes sind als benutzte Stofftaschentücher. Ein Tourprojekt, das sich durch Bars, Kaschemmen, Kunstorte und Zwischenräume bewegt, um das zu sammeln, was unsere Gesellschaft am liebsten ignoriert: Emotionen, sobald sie sich flüssig zeigen. Das Projekt ist nicht leicht zu greifen, eher zu schmecken. Irgendwo zwischen wissenschaftlichem Archiv und fiktivem Szenario verteilt das Trio Tränencocktails, um im selben Zuge deine Tränen mitzunehmen. Sie sagen, sie sammeln “reale Tränen,” von Zuschauer*innen, Mitspieler*innen und sich selbst. Flüssige Zeugnisse emotionaler Transformationen.

Ihre Methoden: Nähe, Konfrontation, Nostalgie und etwas Humor. Sie fragen: Was passiert, wenn ein Tropfen fällt? Wer sieht ihn? Wer hebt ihn auf? Wer darf überhaupt weinen – und warum? 

Der Gorgone Macarea ist echt. Also biologisch. Ein brasilianischer Nachtfalter, der sich in feuchten Tropennächten an den Augen wilder Vögel festhält, um ihre Tränen zu trinken.1 Kein Witz – eine dokumentierte Strategie zur Proteinaufnahme. Ein Wesen, welches vom Weinen der Anderen lebt. Der Nachtfalter verwandelt Gorgone Macrea in eine mythische Figur – ein Wesen, halb Falter, halb Antiheld, das sich nun durch urbane Dämmerzonen bewegt, auf der Suche nach emotionalen Tränen. Denn genau die weisen einen größeren Proteinanteil auf als andere, herkömmliche Tränen. Zu finden sind sie jedoch mysteriöserweise nur bei Homo sapiens. Also gründete der Nachtfalter dieses Projekt, um genau diesen zur Spende seines wohl kostbarsten Tropfens zu überreden – zusammen mit Sadgirl*, eine Figur, die sich weigert, nicht zu fühlen.

Sadgirl ist der anthropologische Filter des Trios. Emo-Amazonin mit diplomatischem Pass und einer Haltung wie ein Meme über (un)erfüllte Liebe. Sadgirl* hat das Weinen professionalisiert, aus der Ecke des Privaten geholt, auf die große Bühne gezerrt – und dann selbst wieder in Tränen aufgelöst. Sadgirl* hat keine Angst vor Pathos, aber verpackt ihn in rosa Kunstleder und Lana-Del-Rey-Beats. Der Sadgirl-Topos wurde in den letzten Jahren weichgekocht, vermarktet, in Tumblr-Nostalgie oder Netflix-Klischees verwandelt. Doch Audrey Wollen, die eigentliche Architektin des Begriffs, dachte diesen weiter: Sadness als politische Geste.2 Weibliches Leid nicht als Schwäche, sondern als widerständige Form – gegen Erwartungen, gegen Verwertbarkeit, gegen das Patriarchat. Und genau hier geht Sadgirl* weiter und verweist mit einem Johanna Hedva Zitat auf die Problematik der privilegierten, reichen, schönen, weißen "Bubbles" unserer kapitalistischen Gesellschaft, die so gerne von Sophia Coppola3 verfilmt werden:

Beeinflusst wurde ich von Audrey Wollens Sad Girl Theory, die vorschlägt, historisch weiblich gelesene Pathologien neu zu definieren, als ein Akt des Widerstands und des politischen Protests für Mädchen: Kritikwürdig ist jedoch die Zentrierung der Sad Girl Theory auf Weißsein, Schönheit, Heteronormativität und Ressourcen der Mittelschicht. Ich begann über die Frage nachzudenken, was mit dem sad girl, dem traurigen Mädchen, geschieht, das arm, queer und/oder nicht weiß ist, wenn, falls, es erwachsen wird.4

Und dann ist da noch Fluss. Die Synthese, der Gleitstoff, die Verbindung. Fluss ist Liquidität in Persona – immer in Bewegung, oft ruhig und gleichmäßig strömend, und manchmal brodelnd, reißend, wütend. Eine verkörperte Frequenz, die sich zwischen den beiden anderen bewegt wie feuchter Nebel zwischen zwei Stromleitungen. Fluss fragt: Was tun wir mit unseren Tränen? In der Popgeschichte dienen sie oft als Beweis: Cry me a river, sang Julie London 1955 – ein Song, geschrieben von Arthur Hamilton, der mehr als ein Jahrhundert weiblicher Zurückweisung und männlicher Erwartungshaltungen mitschleift.5 Eine Weigerung, das Weinen des anderen anzuerkennen.


Jetzt sagst du, du bist einsam

Du hast die ganze Nacht durchgeweint 

Nun, dann wein mir doch einen Fluss 

Wein mir einen Fluss 

Ich habe einen Fluss wegen dir geweint.


– singt später Ella Fitzgerald, für die Hamilton den Song eigentlich geschrieben hatte. Justin Timberlake nimmt dann im neuen Jahrtausend denselben Titel – diesmal als bitterer Vorwurf an Britney Spears, schön verschnürt mit einem misogynen Musikvideo, was extremen Anklang in der Y2K Ära (kurz für ‘Year 2000’) findet.6 Tränen als Schuldbeweis. Als Beleidigung. Als Kapital. 

Aber – warum weint Justin eigentlich nicht? 

Und hat Arthur geweint? Berührt es sie nicht? Oder sprechen sie lieber über die Emotionen anderer? 

Die drei erinnern uns daran, dass Weinen nie neutral war. In der Antike galt das Weinen der Helden als Akt der Würde – Achilles, Priamos, Hektor: alle haben geheult.7 Heute gelten weinende Männer oft immer noch als Memme. Weibliche Tränen werden entwertet, männliche verweigert, queere oft nicht mal gesehen. Und was bleibt? Die drei touren weiter. Ihre Route ist nicht linear, sondern emotional. Wo sie auftreten, bleibt etwas zurück – nicht sichtbar, eher geschmacklich. Eine Spur aus Tränen, die in kleinen Fläschchen konserviert wird. Vielleicht landen sie eines Tages im Museum. Vielleicht im Kühlschrank. Oder vielleicht einfach in deinem nächsten Cocktail. Am Ende der Show steht dann noch die Frage: Weinst du eigentlich gerne? Und mit wem? Vielleicht sollten wir lieber weinen ‘mit’ statt weinen ‘wegen’. 

Weinen mit dem Ex 

Weinen mit der Chefin 

Weinen mit Zwiebeln 

Was bleibt, sind die Tränen. Sie werden katalogisiert, etikettiert, archiviert und getrunken. Nicht als Trophäen, sondern als Zeugnisse einer kollektiven Gegenwart, die eigentlich kaum jemand noch fühlt, aber alle trotzdem betrifft. 

Und manchmal ist es eben auch einfach schön zu wissen, dass irgendwo da draußen ein staubiger Falter durch die Nacht fliegt, nur um deine Träne zu trinken. 


Der Artikel bezieht sich auf Sekret – Eine Tränen-Bar Performance, die als Diplomarbeit von Wiebke Mueller an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung entstand. Mit: Lina Agnes Nordhausen (als Der Nachtfalter), M. Amin Zariouh (als Sadgirl*), Kioma Palmen (als Der Fluss).

Musik: Ricarda Fischer; Text: Wiebke Mueller, Isabelle Konrad; Produktion: Isabel Winter; Cocktails: Anne Marx; Kostüm: Wiebke Mueller; Maske: Isabell Motz, Jaya Demmer; Video: Amelie Enders; Licht & Ton: Philip Lawall; Soufflage: Ilayda Kohl; Kamera: Lucie Friederike Mueller; Ton: Ilja Vincent Morgenstern; Support Ausstattung & Kostüm: Lina Determann, Gloria Müller, Jette Schwabe; Fotos: Quirin Thalhammer.

Footnotes

  1. Sandrine Ceurstemont, “Diese Motten trinken die Tränen schlafender Vögel,” National Georgraphic, 2. Oktober 2018, https://www.nationalgeographic.de/tiere/2018/10/diese-motten-trinken-die-traenen-schlafender-voegel, abgerufen am 18. Juni 2025.

  2. Benjamin Barron, “richard prince, audrey wollen, and the sad girl theory,” i-D, 12. November 2014. https://i-d.co/article/richard-prince-audrey-wollen-and-the-sad-girl-theory/, abgerufen am 18. Juni 2025.

  3. Emily Yoshida, “Sophia Coppola and All the Sad Girls,” The New York Times, 10. November 2023, https://www.nytimes.com/2023/11/10/opinion/sofia-coppola-sad-good.html, abgerufen am 18. Juni 2025.

  4. Johanna Hedva, “Sick Woman Theory,” in caring structures, Hildesheim, übersetzt von: Lane Peterson und Helen Bukowski, Hrsg. Nora Brünger, Leona Koldehoff, Kunstverein Hildesheim, 2020.

  5. Wikipedia, “Cry Me a River (Arthur Hamilton song),” Zuletzt geändert 6. Juni 2025, https://en.m.wikipedia.org/wiki/Cry_Me_a_River_(Arthur_Hamilton_song).

  6. Alex Denney, “An ode to Britney: the making of the Cry Me A River video,” Dazed, 24. November 2017, https://www.dazeddigital.com/music/article/38186/1/cry-me-a-river-justin-timberlake-video-director-interview, abgerufen am 18. Juni 2025.

  7. Bernd Manuwald, “Epische und tragische Tränen in der Antike,” Rheinisches Museum für Philologie, 162, 2019, S. 233-264.

About the author

Wiebke Mueller

Published on 2025-06-18 10:19