Essay

Die Kehrseite der Erinnerungskultur / The Other Side of Erinnerungskultur

Über den Geschichtsbegriff des deutschen Gedenk- und des globalen Menschenrechtsdiskurses

<p>Abb. 1, Quelle:<em> Deutschland im Herbst</em></p>

Abb. 1, Quelle: Deutschland im Herbst

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Der Inhalt dieses Textes ist eine zusammengefasste Version der Argumente meiner Magisterarbeit, die ich im November 2023 unter demselben Titel eingereicht habe.

Gabi Teichert ist unzufrieden. Die Protagonistin von Alexander Kluges Film Die Patriotin (1979) lehrt Geschichte an einem Gymnasium. Sie ist der Ansicht, dass sich in der deutschen Vergangenheit kein geeignetes Material für den Schulunterricht finden lasse. Mit geeignet meint sie: positiv. Eine Identität, Werte, Gelungenes—etwas, das sie ihren Schüler:innen guten Gewissens vermitteln kann. Wenn sie jedoch auf die Geschichte ihres Landes blickt, sieht sie nur eine Aneinanderreihung von Katastrophen, von Niederschmetterndem, kulminierend in Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und Holocaust. 

Die Patriotin erschien 1979 und spielt auch in dieser Zeit beziehungsweise in den Jahren unmittelbar zuvor. Der Film ist geprägt von den westdeutschen Krisen jener Epoche, allen voran vom Deutschen Herbst. Damit ist die Entführung von Hanns Martin Schleyer und eines Lufthansa-Flugzeugs durch die Rote Armee Fraktion (RAF) und ihre palästinensischen Unterstützer:innen sowie die staatliche Reaktion darauf gemeint. Gabi Teichert erkennt auch in der Nachkriegszeit mit ihren personellen Kontinuitäten zum Nazi-Regime, dem auf der Ausbeutung von Arbeitskraft basierenden ‚Wirtschaftswunder‘ und vor allem der politisch aufgeheizten Atmosphäre der 1970er-Jahre nichts, was in ihren Augen für die Geschichtsstunden taugt.

Aus heutiger Sicht aber, so impliziert der Titel eines Werks des Historikers Edgar Wolfrum, hat sich die Situation geändert. Bei der Bundesrepublik handle es sich inzwischen um eine „geglückte Demokratie“1, deren Entwicklung nun auch positives Material für den Schulunterricht hergebe. Ein wichtiger Faktor sei dabei ausgerechnet der Umgang mit der eigenen, schlimmen Geschichte. Die Erzählung geht so: Nach dem Kriegsende schwieg die deutsche Öffentlichkeit größtenteils über die eigene Vergangenheit. Das änderte sich erst im Zuge der Proteste der 68er-Bewegung2, die die personellen und ideologischen Verstrickungen zwischen Bundesrepublik und Nazi-Regime konsequent anprangerte. Endgültig verfestigte sich diese Entwicklung dann nach dem ‚Historikerstreit‘ von 1986 und 87. Damals argumentierte der Philosoph Jürgen Habermas gegen den völkisch-nationalistischen Geschichtsrevisionismus des Historikers Ernst Nolte. In diesem Kontext entstand die Singularitätsthese, die je nach Auslegung die Unvergleichbarkeit oder die Einzigartigkeit des Holocausts beschreibt. Damit war nun auch erinnerungspolitisch der Boden bereitet für die endgültige Rückkehr des kurz darauf wiedervereinten Deutschlands in den Kreis der respektierten westlichen Nationen.

Mit Walter Benjamin gedacht, sind solche linearen Fortschrittserzählungen generell zu hinterfragen, da sich dem Philosophen zufolge darin eine Geschichte der Sieger manifestiert.3 Hinzu kommt, dass sich inzwischen Stimmen häufen, die den heutigen Zustand der deutschen Erinnerungskultur kritisieren. So schreibt zum Beispiel der Historiker Dirk Moses von einem „Katechismus der Deutschen“4, einem ritualisierten Umgang mit der Vergangenheit, der die Positionen von Minderheiten in einer postmigrantischen Gesellschaft ausgrenze. Verteidiger:innen der Singularitätsthese reagieren darauf, indem sie seinen und ähnlichen Argumenten mindestens eine Nähe zu antisemitischen Mustern vorwerfen. Seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 und dem folgenden Krieg im Gazastreifen hat sich diese schon zuvor zu beobachtende Konstellation noch deutlich verschärft.

Gewalt nach dem Ende der Geschichte

Diese Polarisierung ist durch den Nexus Deutschland-Israel-Palästina von konkreter außen- und kulturpolitischer Relevanz. Darüber hinaus kann die deutsche Erinnerungskultur aber auch als Anschauungsbeispiel dienen, um von ihr ausgehend und mit ihr auf einer abstrakten Ebene über unterschiedliche Geschichtsbegriffe nachzudenken. Einen theoretischen Ansatzpunkt dafür bildet das Buch After Evil des US-amerikanischen Philosophen Robert Meister. Er kritisiert dort die Haltung, die Vergangenheit als zwar schreckliches, aber eben auch als tatsächlich vergangenes Übel zu betrachten. Für Meister lassen sich Ungerechtigkeiten im Kapitalismus nach marxistischer Lesart nicht auf einen bestimmten Moment reduzieren. Stattdessen würden sie sich strukturell fortsetzen.5 

Zur Erläuterung helfen Begrifflichkeiten des Philosophen Slavoj Žižek. Er unterscheidet zwischen einer subjektiven und einer objektiven Perspektive auf Gewalt.6 Aus einem subjektiven Blickwinkel gesehene Gewalt sei demnach auf die Handlungen einzelner Akteur:innen—„social agents, evil individuals, disciplined repressive apparatuses, fanatical crowds“7—zurückzuführen. Objektiv gesehene Gewalt hingegen gehe aus den gesellschaftlichen Verhältnissen hervor, sei also vielmehr systemisch denn individuell bedingt. Dabei handelt es sich für Žižek nicht um zwei sich gegenseitig ausschließende Kategorien. Stattdessen habe Gewalt immer unterschiedliche Merkmale. Der Blickwinkel bestimme, welche davon wahrgenommen würden.

Das Hauptobjekt der Kritik ist bei Meister der von ihm so bezeichnete ‚Menschenrechtsdiskurs‘, der sich insbesondere seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der westlichen geprägten politischen Öffentlichkeit durchgesetzt habe.8 Hier dominiere der subjektive Blick auf Gewalt. Formen davon würden moralisch verurteilt, nicht aber politisch-historisch kontextualisiert. Die Grundannahme sei dabei, dass spätestens nach dem Ende des Kalten Krieges in den westlichen Demokratien ein „[radikaler Wertewandel] im Zeichen der Menschenrechte“9 stattgefunden habe, wie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann schreibt. Demnach seien die Grausamkeiten des ideologisch geprägten 20. Jahrhunderts, ausgelöst durch den Zyklus von Revolution und Konterrevolution, Teil einer schlimmen Vergangenheit. Nun aber würden wir in der Zeit „after evil“ leben. Die Lektion aus der Geschichte sei es deshalb, an das vergangene Böse zu erinnern und seine mögliche Wiederkehr rechtzeitig zu bekämpfen.10

After Evil erschien 2011 und ist geprägt von der US-amerikanischen Außenpolitik der Bush-Ära und der frühen Obama-Jahre. Nach dem vom Wirtschaftswissenschaftler Francis Fukuyama ausgerufenen ‚Ende der Geschichte‘ schien der Kampf der Systeme gewonnen;11 die hegemoniale Rolle des von den USA angeführten Westens kam, so die eigene Überzeugung, einer universellen Menschheit zugute; Stützpfeiler der daraus hervorgehenden Weltordnung waren demnach die Menschenrechte und das globale, neoliberale Wirtschaftssystem. Beides zusammen diente in diesem Verständnis dem Schutz vor der Wiederkehr der schlimmen Vergangenheit. Um diesen Zustand zu wahren, galt es nun, die Feinde dieser Weltordnung rhetorisch und immer wieder auch militärisch zu bekämpfen. Davon ausgehend entwickelte sich das Muster, eigene Menschenrechtsverletzungen durch die Behauptung zu legitimieren, man richte sich damit gegen grundsätzliche Feinde der Menschenrechte. Das zeigte sich zum Beispiel im sogenannten War on Terror[^Der Begriff bezeichnet das Vorgehen, mit dem die USA nach eigenen Aussagen den internationalen Terrorismus bekämpfte. Dazu werden auch die Kriege in Afghanistan und dem Irak gezählt.] nach den Anschlägen vom 11. September 2001. George W. Bush sprach im Kontext des offensichtlich völkerrechtswidrigen Irak-Kriegs zunehmend von der US-amerikanischen Verantwortung, die Welt vom Bösen zu befreien. Dadurch ergibt sich laut Meister eine Zweiteilung: Auf der einen Seite stehen in dieser Rhetorik die Guten, die sich selbst als Verteidiger der Menschenrechte identifizieren. Ihre Pflicht ist es in der eigenen Weltanschauung, jenen Einhalt zu gebieten, die die Menschenrechte missachten—falls notwendig auch mit militärischen Mitteln.12

Meisters Überlegungen hängen in doppelter Hinsicht mit der deutschen Erinnerungskultur zusammen. Zum einen, weil der lokale deutsche Umgang mit der Vergangenheit dem globalen Menschenrechtsdiskurs als Vorbild diene. Die Formel dazu laute: Die Zeit der eigenen Gräueltaten ist vergangen, denn heute werden diese Handlungen ja verurteilt. Die Erinnernden sind deshalb nicht (mehr) Täter:innen, Profiteur:innen oder Zuschauer:innen, sondern Zeug:innen der vergangenen Grausamkeit—und somit auf der Seite des Guten.13 Zum anderen wirken Meister zufolge aber auch globale Vorgänge auf den deutschen Fall ein. Damit sind insbesondere die militärischen Handlungen Israels gemeint. Der jüdische Staat stehe nach dem Holocaust in der Logik des Menschenrechtsdiskurses paradigmatisch für die Figur des Opfers. Das erzeuge scheinbare Legitimation für das militärische Vorgehen der israelischen Regierung und diskreditiere in vielen Fällen Kritik daran.14 Diese Konstellation zeigt sich immer wieder—und aktuell besonders ausgeprägt—in den deutschen Diskussionen um vermeintlichen linksextremen, postkolonialen oder antiimperialistischen Antisemitimus. Die Philosophin Ana Teixeira Pinto schreibt darüber, stellvertretend anhand des Streits um die documenta fifteen: „[It] is the way a global cultural war plays out locally. What Germany defends is not its Jewish citizenry [...] but a specific regulative discourse upon which ‚the racial order of modernity rests‘.“15 Für sie handelt es sich dabei also um einen Verteidigungsmechanismus für ein westlich-hierarchisches Weltbild.

Eine Folge davon ist der Anthropologin Sultan Doughan und der Kulturwissenschaftlerin Hanan Toukan zufolge, dass es in Deutschland kaum öffentlichen Raum für palästinensische Stimmen gebe. Sie schreiben: „Through their intimate connections with the knock-on effects of German genocide, they are an unwelcome reminder that this past is not all in the past.“16 Die Vertreibungen im Kontext der Nakba,17 die jahrzehntelange Staatenlosigkeit von Palästinenser:innen, die Situation im Gazastreifen, im Westjordanland und in den Lagern im Libanon: All das wird in diesem Zitat implizit über den Kontext der israelischen Staatsgründung in einen Zusammenhang mit dem Holocaust eingeordnet. Das Leid zahlreicher Palästinenser:innen ist in dieser Argumentation indirekt auch durch die deutschen Verbrechen bedingt. Sie stehen damit für die strukturellen Konsequenzen der Vergangenheit, die noch heute andauern. Deshalb sehen sie sich laut Doughan und Toukan in der deutschen Öffentlichkeit häufig allein aufgrund ihrer vermeintlichen Identität dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt. Sie würden nämlich die Vorstellung verkomplizieren, Deutschland habe seine Schuld zunächst auf- und dann durch Solidarität gegenüber Israel abgearbeitet.

Szenen zweier Begräbnisse

Es zeigen sich also Risse in der linearen Fortschrittserzählung von der deutschen Geschichtsaufarbeitung. Um das Narrativ weiter zu reflektieren, ist eine zeitliche und methodische Perspektivverschiebung interessant. Der Film Deutschland im Herbst (1978) steht in diesem Zusammenhang an einer historischen Schwellenposition. Bei seinem Erscheinen hatte die 68er-Bewegung die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit bereits in der westdeutschen Öffentlichkeit etabliert. Andererseits schien dabei die Richtung der Debatte noch keineswegs festgelegt und ein Umschlagen autoritärer Tendenzen in einen erneuten faschistischen Staat eine reale Gefahr.

Zum Kontext: Im Herbst 1977 entführte zunächst die linksextremistische Rote Armee Fraktion (RAF) den Vorsitzenden des Bundes der Deutschen Industrie, Hanns Martin Schleyer. Ihr Ziel war es, die Freilassung von inhaftierten RAF-Mitgliedern zu erwirken. Die bundesdeutsche Regierung unter SPD-Kanzler Helmut Schmidt reagierte darauf mit intensiven Fahndungen und weitreichenden Anti-Terror-Maßnahmen, ging aber nicht auf die Forderungen der Entführer:innen ein. Um den Druck zusätzlich zu erhöhen, entführten Kämpfer:innen der mit der RAF verbündeten Volksfront zur Befreiung Palästinas das Lufthansa-Flugzeug Landshut in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. In der Nacht zum 18. Oktober stürmte die Spezialeinheit GSG 9 der Bundespolizei das Flugzeug und befreite die Geiseln. Am Morgen desselben Tages wurden die prominenten RAF-Mitglieder Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Andreas Baader tot in ihren Zellen im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim aufgefunden. Einen Tag später gab die RAF die Ermordung Schleyers bekannt. Währenddessen polarisierte die aufgeheizte öffentliche Debatte zunehmend die Gesellschaft. 

Deutschland im Herbst erschien wenige Monate danach und ist ein Gemeinschaftsprojekt deutscher Filmschaffender. Darin tritt auch die zu Beginn erwähnte Geschichtslehrerin Gabi Teichert erstmals auf. Umrahmt sind die Episoden verschiedener Regisseur:innen von zwei dokumentarischen Begräbnisszenen, für die sich Alexander Kluge und Volker Schlöndorff verantwortlich zeigen. Der Film beginnt mit Aufnahmen des Staatsakts zu Ehren des ermordeten Schleyers. Schwer bewaffnete Polizeikräfte schützen die Veranstaltung und die anwesenden politischen und wirtschaftlichen Führungsträger vor der terroristischen Gefahr, die von außen droht. Auch bei der Bestattung von Baader, Ensslin und Raspe, die zum Ende des Films gezeigt wird, ist die quasi-militarisierte Polizei vor Ort. Auf dem Stuttgarter Dornhaldenfriedhof ‘umzingelt’ sie jedoch die Trauergäste, um die Außenwelt vor ihnen zu schützen. Damit verweist der Film auf die diskursive Trennlinie, die damals im Zusammenhang mit dem Begriff des Terrorismus entstand. Unter Linken herrschte daher die Angst, das Abdriften der Bundesrepublik zu einem autoritären Polizeistaat beobachten zu müssen, gerechtfertigt durch den Ausnahmezustand im Kampf gegen die RAF.18

<p>Abb. 2 und 3: Während die Polizei bei Schleyers Bestattung auf die Gefahr von außen achtet (links), richtet sich ihr Blick auf dem Dornhaldenfriedhof auf die Trauergäste selbst (rechts). Quelle: <em>Deutschland im Herbst</em>.</p>

Abb. 2 und 3: Während die Polizei bei Schleyers Bestattung auf die Gefahr von außen achtet (links), richtet sich ihr Blick auf dem Dornhaldenfriedhof auf die Trauergäste selbst (rechts). Quelle: Deutschland im Herbst.

Aus heutiger Sicht scheint sich diese Furcht auf den ersten Blick nicht bestätigt zu haben, zumindest nicht in vollem Ausmaß. Etwas anders einordnen lässt sich die Situation allerdings mit den Begrifflichkeiten, die Dirk Moses in seinem Werk The Problems of Genocide einführt. Dort unterscheidet er zwischen zwei Formen von dem, was er als das Streben nach permanenter Sicherheit bezeichnet. Gemeint sind damit gewaltsame politische Grenzüberschreitungen eines Staates, die dem Ziel dienen sollen, die eigenen Sicherheitsinteressen dauerhaft zu zementieren.19 Laut Moses gibt es zum einen die illiberale Form, das präventive Unterdrücken oder gar Töten von Gruppen, die – ganz wichtig – aus der Perspektive der Täter angeblich eine potenzielle Gefahr darstellen. Dazu zählt er Genozide, mit dem Holocaust als paradigmatischer Form. Das Gegenstück sei das liberale Streben nach permanenter Sicherheit. Dessen Dialektik beginne damit, Formen des illiberalen permanenten Sicherheitsstrebens als das absolute Böse zu behandeln.20 Denn eine solche Rhetorik grenze, wie es Meister für den Menschenrechtsdiskurs beschreibt, bestimmte Gruppen aus der liberalen Vorstellung einer universellen Menschheit aus.21 

Mit Meister und Moses könnte man sagen, dass die Muster heutiger diskursiver Trennlinien denen ähneln, die im Deutschen Herbst zu beobachten waren. Stärker jedoch als damals greifen dabei nun nationale und globale Ebene ineinander, was insbesondere die deutschen Diskussionen um Israel und Palästina verdeutlichen.22 Trennlinien verlaufen in verschiedenen Konstellationen zwischen einer westlichen Weltgemeinschaft und den Feinden der Menschheit, zwischen fortschrittlichen Demokratien und rückständigen Autokratien, zwischen christlichen Werten und den Gefahren des Islams oder zwischen Globalem Norden und Globalem Süden. Aus dieser Sicht liefern Menschenrechtsdiskurs und Erinnerungskultur Argumente, um ein westliches liberales permanentes Sicherheitsprojekt zu legitimieren. Dieses wiederum ist nicht zu trennen vom Siegeszug des Neoliberalismus in den vergangenen Jahrzehnten. Teixeira Pinto schreibt: „Saturated by colonial formations, principles like openness, universalism, humanism, freedom and individualism function in lockstep with the development of a globally-integrated economy rooted in Western hegemony.”.23

Damit wiederum hängt ein weiterer Kritikstrang zusammen, der in Deutschland im Herbst angedeutet wird. Immer wieder rückt der Film nämlich den Blick auf die sozialen Verhältnisse in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre und auf eine Tradition von linkem Widerstand in Deutschland. Das geschieht zum Beispiel über Szenen mit Gastarbeiter:innen sowie mit Liedern, die Ikonen der Arbeiter:innenbewegung wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht oder Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti gewidmet sind. Eine mögliche Deutung ist, dass Kluge & Co. damit der Ausgrenzung linken Widerstands im Zuge des Deutschen Herbstes entgegenwirken wollen. Aus heutiger Sicht sind die politisch-ökonomischen Forderungen der 68er-Protestbewegung dadurch diskreditiert, dass sie diskursiv mit der Gewalt der RAF verwoben wurden, also auf der falschen Seite der Terrorismus-Trennlinie stehen. Als ihr historisches Verdienst gilt es hingegen, das Schweigen über die deutsche Vergangenheit aufgebrochen und die personellen Kontinuitäten zwischen Nazi-Regime und Bundesrepublik angeprangert zu haben.24 

Wenn sich das Material für den Geschichtsunterricht also seit dem Deutschen Herbst verbessert haben soll, dann sind die gesellschaftlichen Veränderungen in erster Linie nicht strukturell, sondern ‚erinnerungsdiskursiv’. Statt einem Staat voller Altnazis in einer geteilten Nation wird die Bundesrepublik nun als gefestigte, eine europäische Führungsrolle einnehmende Demokratie angesehen, die spätestens seit dem Historikerstreit vorbildlich an den Holocaust erinnert. Es wäre denkbar, den Terror der RAF als Symptom ungerechter Strukturen beziehungsweise eines sozialen Antagonismus aufzufassen, worauf Deutschland im Herbst verweist. Analog dazu ließe sich heute bei nationalistischen Rechtsschwenks und geopolitischen Gewaltausbrüchen die Frage stellen, inwiefern solche Entwicklungen etwa mit dem globalen Siegeszug des Neoliberalismus zusammenhängen könnten. Die öffentliche Reaktion war und ist jedoch in der deutschen beziehungsweise westlichen Öffentlichkeit zumeist eine andere: die vehemente Verteidigung des Status Quo.

Die Zeit des Aufschubs

Noch genauer aufschlüsseln lässt sich der Geschichtsbegriff von Menschenrechtsdiskurs und Erinnerungskultur mit dem 1988 veröffentlichten Film Bilder der Welt und Inschriften des Krieges. Darin setzt sich Regisseur Harun Farocki in essayistischer Form mit dem Thema der Erfassung von Bildern auseinander. Ein Schlüsselstelle bildet eine Sequenz zu Aufnahmen von Auschwitz, die US-amerikanische Aufklärungsflugzeuge 1944 machten—theoretisches Beweismaterial für die Existenz des Konzentrationslagers, und zudem ausreichend Information, um es zu einem militärischen Ziel zu machen. Allerdings erkannten die für die Auswertung zuständigen Militärs nicht, was auf den Bildern zu sehen ist. Bis zum Kriegsende bombardierten die Alliierten die Lager beziehungsweise ihre Zufahrtswege nicht. Hier liegt die Überleitung zu After Evil nahe. Laut Meister besagt das Narrativ des Menschenrechtsdiskurses nämlich, dass die heutigen Verteidiger:innen der Menschenrechte (anders) gehandelt hätten, wären sie mit ihrem jetzigen Wissen dem vergangenen Bösen gegenübergestanden. Im Zuge des Wertewandels im Zeichen der Menschenrechte in den westlichen Demokratien hätten auch diejenigen, die in einer anderen Öffentlichkeit als Profiteur:innen von historischen Ungerechtigkeiten eingestuft worden wären, eine moralische Wandlung hinter sich. Es handle sich bei ihnen nun um Zeug:innen des vergangenen Bösen und dessen heutiger Wiederkehr. Das belege ihr Erinnern und ihr Mitgefühl für die Opfer.25 

Meister kritisiert diese Annahme in verschiedener Hinsicht. Es sei zunächst nämlich ein Argument, das sich an die Profiteur:innen und nicht an die Opfer von Ungerechtigkeit richte. Er bezeichnet es sogar als Fortsetzung des konterrevolutionären Projekts mit anderen Mitteln. Konterrevolutionär:innen profitieren nach Meisters Definition von ungerechten Verhältnissen. Klassischerweise hätten sie die Opfer dieser Verhältnisse unterdrückt, aus Angst davor, diese könnten als potenzielle Revolutionär:innen den Spieß umdrehen. Der Twist beim Menschenrechtsdiskurs sei es, dass nun das in der Vergangenheit erfahrene Leid der einst Unterdrückten verurteilt und dass Mitgefühl für sie empfunden wird. Das stelle einen moralischen Sieg für die Opfer dar.26 Deshalb, so die Überzeugung, hätten sie keinen Grund mehr, nach einer revolutionären Umwälzung zu streben. Zusammengefasst: „The underlying hope of today’s Human Rights Discourse is that victims of past evil will not struggle against its ongoing beneficiaries after the evildoers are gone.“27 Auf diese Weise bleiben die politisch-ökonomischen Verhältnisse weiterhin dieselben, während die nun als Zeugen wiedergeborenen Profiteur:innen gleichzeitig ihre Angst vor den Opfern verlieren. Sie fühlen sich schlecht, weil sie das Leid der Opfer erkennen und verurteilen. Gleichzeitig sind diese Gefühle für die Zeugen gewissermaßen tröstlich, weil gerade diese ja die eigene moralische Wandlung belegen—was ihnen wiederum die konterrevolutionäre Angst vor den Opfern nimmt. Meister bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „In effect, we cope with our fantasies of eliminating or controlling the victim we fear by internalizing a ‚good‘ victim who has recognized and coped with his (justifiable) hatred of us.“28

Damit diese Logik funktioniert, muss historische Ungerechtigkeit auf den subjektiven Blick auf Gewalt beschränkt werden. Das mache es möglich, ihr Auftreten zu verurteilen und gleichzeitig die strukturellen Zusammenhänge der Geschichte auszublenden.29 Dem widersetzt sich Farocki in Bilder der Welt. Er schreibt, dass sich sein Film weigere, „die Leiden und das Sterben anschaulich zu machen und also zu verkitschen“.30 Die erwähnten und gezeigten Personen interessieren den Regisseur „als Subjekt von Geschichte“.31 Deshalb reduziert der Film sie eben nicht auf ihr körperliches Leiden, sondern arbeitet auch andere Aspekte ihres Daseins heraus, darunter ihre historisch bedingten Motivationen, ihre ‚agency‘. Beispiele sind der in Auschwitz inhaftierte Künstler Alfred Kantor, der mit seinen Skizzen dem Vorhaben der Nazis Widerstand leistete, keine Bilder aus dem Konzentrationslager an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, und eine Gruppierung von Insassen, die bei einem Aufstand ein Krematorium niederbrannte.

<p>Abb. 4: Ein Akt des Widerstands: Alfred Kantors Skizzen von Auschwitz, Quelle: <em>Bilder der Welt und Inschriften des Krieges</em>.</p>

Abb. 4: Ein Akt des Widerstands: Alfred Kantors Skizzen von Auschwitz, Quelle: Bilder der Welt und Inschriften des Krieges.

Im Menschenrechtsdiskurs seien die Opfer hingegen auf ihre Rolle als passive, leidende Objekte festgelegt, heißt es in After Evil.32 Eine der Konsequenzen einer derart fixierten Identitätszuschreibung ist offensichtlich: Sie ignoriert häufig die tatsächliche Lebensrealität der Betroffenen. Außerdem eignen sich Meister zufolge in dieser Logik nur diejenigen als Projektionsflächen für Mitgefühl, die dem Bild vom entpolitisierten, passiven Opfer entsprechen.33 Das sei insbesondere bei einem Genozid der Fall. Für Opfer von Gewalt bei etwa Bürgerkriegen oder Aufständen gilt das laut Dirk Moses hingegen oftmals nicht. Der Fokus auf die Kategorie Genozid stufe andere Formen der Gewalt, die nicht in dieses Schema passen, herab. Gegenüber den Betroffenen bestehe dann nicht die Pflicht der uneingeschränkten moralischen Solidarität. Schließlich seien sie aktiver Teil eines Konflikts.34 Ähnlich verhalte es sich bei Personen, die unter den strukturellen Konsequenzen historischer Ungerechtigkeit leiden. Dazu gehören zum Beispiel Menschen aus ehemals kolonisierten Ländern, die heute zwar nicht mehr in einer Kolonie leben, deren Armut aber durch gezielte Ausbeutung aus der Zeit des Kolonialismus bedingt ist.35 Sie eignen sich ebenfalls kaum als Objekte für Mitgefühl, da in der Logik des Menschenrechtsdiskurses ja eine Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart besteht; eher wird ihnen—ganz im Sinne neoliberaler Denkmuster—eine individuelle Mitverantwortung für ihre missliche Lage zugesprochen.36

Um die zeitliche Abfolge dieses Geschichtsbegriffs zu erläutern, vergleicht Meister den Menschenrechtsdiskurs mit der von ihm so bezeichneten Revolutionstheorie. Letztere gehe von einer ungerechten Zeit T1 und einer gerechten Zeit T2 aus. Dazwischen stehe TR, die Zeit der Revolution, in der die zuvor ungerechten Verhältnisse umgewälzt würden. Die Annahme des Menschenrechtsdiskurs sei es hingegen, dass wir uns in einer Zeit befinden, die nicht mehr T1 (schlimme Vergangenheit) ist. Es handle sich dabei aber auch weder um T2 (historische Gerechtigkeit), noch um TR (Umwälzung), sondern um eine Zeit des Übergangs, der Transitional Justice.37 Die moralische Wandlung der Zeugen beweise in dieser Logik, dass die schlimme Vergangenheit tatsächlich vorbei sei. An einer gerechteren Zukunft zu arbeiten, die durch eine Umwälzung der Verhältnisse herbeigeführt wird, berge hingegen die Gefahr eines Rückfalls in frühere gewaltsame Zeiten. Es gehe deshalb darum, den Wertewandel im Zeichen der Menschenrechte und gleichsam auch die gegenwärtigen politisch-ökonomischen Verhältnisse zu verteidigen. Das sei die Lektion aus der Geschichte. Meister sieht darin den entpolitisierenden Schub der Transitional Justice.38 Ethik, schreibt er, habe hier das Primat über die Politik.39 

Anders stellt sich der Geschichtsbegriff dar, den Farocki in Bilder der Welt andeutet. Einer seiner Kommentare zu dem Film lautet: „Es scheint mir, als ob sich das menschliche Bewusstsein weigert, die Tatsächlichkeit von Auschwitz anzuerkennen. Vielleicht ist es noch heute so, und deswegen muss man Auschwitz stets wiederholen, durcharbeiten.“40 Im Menschenrechtsdiskurs und der deutschen Erinnerungskultur steht der Holocaust für das absolute Böse der Vergangenheit, die man überwunden habe. Farockis Aussage impliziert jedoch, dass die Bedeutung des Holocausts für die Gegenwart eben nicht festgelegt, sondern weiterhin ständig zu hinterfragen sei. Über die essayistische Reflexion der verschiedenen Bilder unter anderem von Auschwitz bewegt er sich in seinem Film schrittweise zu seiner politischen Botschaft hin. Er setzt sich dafür ein, grundlegend an gesellschaftlichen Veränderungen zu arbeiten. Das sei das einzige Mittel, Gräueltaten wie den Holocaust von vorneherein auszuschließen, anstatt sie nachträglich zu verurteilen. Und dafür wiederum benötige es zivilgesellschaftlichen Widerstand. So leitet er beispielsweise von der Zerstörung des Krematoriums durch die KZ-Insassen zur Stationierung von US-amerikanischen Atomraketen auf deutschem Boden über. Im Voice-Over-Kommentar wird zunächst der Philosoph Günther Anders zitiert: „Die Wirklichkeit hat zu beginnen.“41 Danach heißt es: „Zerstören wir die Möglichkeit, an diese Geräte heranzukommen, an die Atomraketen.“42 Das klingt wie ein Plädoyer gegen die Zeit des Übergangs. 

<p>Abb. 5: Was einst bei Auschwitz ausblieb, fordert Farocki in seinem Film für die Atomraketen in Deutschland: die Blockierung des Zugangs.</p>

Abb. 5: Was einst bei Auschwitz ausblieb, fordert Farocki in seinem Film für die Atomraketen in Deutschland: die Blockierung des Zugangs.

Geschichte als Arbeit

Ähnlich wie Farocki sieht es auch die Lehrerin Gabi Teichert. In Kluges Film Die Patriotin liest sie mit ihren Schüler:innen einen Auszug aus dem Buch Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945, das vom Regisseur selbst stammt. In der Passage geht es um Gerda Baethe, eine Einwohnerin Halberstadts, die während der Bombardierung zusammen mit ihren Kindern am Boden ausharrt. Der Text besagt:

Um eine strategische Perspektive zu eröffnen, wie sie sich Gerda Baethe am 8. April in ihrer Deckung wünschte [...],  hätten seit 1918 siebzigtausend entschlossene Lehrer, alle wie sie, in jedem der am Krieg beteiligten Länder, je zwanzig Jahre, hart unterrichten müssen; aber auch überregional: Druck auf Presse, Regierung; dann hätte der so gebildete Nachwuchs Zepter oder Zügel ergreifen können [...].43

Teichert leitet daraus die Aufforderung ab, nicht nur das einstige Grauen zu verurteilen, sondern im Hier und Jetzt den Grundstein für eine solche strategische Perspektive zu legen. Ihr Ansatz ist es, Benjamins Forderung, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“,44 in konkrete, aktive Arbeit zu übersetzen. Die Lehrerin glaubt, nur auf diese Weise einmal geeignetes Material für ihren Unterricht finden zu können. Ein zentraler Satz aus dem Film lautet: „Wenn diese Geschichte nicht wäre, [...] wäre bestimmt eine andere.“45

Dem Menschenrechtsdiskurs zufolge erscheinen jedoch die gegenwärtigen politisch-ökonomischen und geopolitischen Verhältnisse als „einzige moralische Konsequenz aus der Gewaltgeschichte der Vergangenheit“, schreibt der Philosoph Sami Khatib.46 Diese Vorstellung der moralischen Alternativlosigkeit beschränke unseren politischen Horizont, fügt der Philosoph Alberto Toscano hinzu.47 Das ist umso schwerwiegender, betrachtet man das Anwachsen offen rechter Bewegungen auf der ganzen Welt. Die Werte, die der Menschenrechtsdiskurs hervorhebt, werden von ihnen häufig explizit abgelehnt. Eine mögliche Reaktion darauf ist es, das entsprechende Weltbild umso stärker zu verteidigen. Das bedeutet, jegliche Kritik daran—egal aus welcher Richtung—als potenzielle Relativierung des Bösen auszugrenzen, um wenigstens das ‚Erarbeitete‘ zu bewahren. Der entgegengesetzte Ansatz ist es, die sogenannte ‚Krise der westlichen Demokratien‘ zum Anlass zu nehmen, sich mit ihren inhärenten strukturellen Problemen auseinanderzusetzen. 

Letzteres bedeutet auch, die ideologischen Kritikpunkte am Geschichtsbegriff des Menschenrechtsdiskurses und der nachkriegsdeutschen Erinnerungskultur nicht zu ignorieren. Die Hauptthese ist dabei, dass die Trennung zwischen schlimmer Vergangenheit und besserer Gegenwart dem Ziel historischer Gerechtigkeit im politisch-ökonomischen Sinne durchaus im Weg stehen kann. Allerdings ist die Schlussfolgerung daraus nicht, die mit dem Menschenrechtsdiskurs zusammenhängenden Werte komplett aufzugeben. Es wäre beispielsweise absurd, Mitgefühl für die Opfer von Gewalt per se als etwas Schlechtes darzustellen. Mit Meister gesprochen wäre es jedoch ebenso zu kurz gedacht, unter Verweis auf dieses Mitgefühl eventuelle strukturelle Ursachen des Leidens auszublenden. So sollte es darum gehen, Begriffe und Werte wie Menschenrechte oder Gerechtigkeit in ihrem historischen Kontext zu betrachten, zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu definieren. Die Voraussetzung dafür wäre eine nicht schon im Vorhinein festgelegte Auseinandersetzung mit der Geschichte und ihren Konsequenzen. Das wiederholte Durcharbeiten des früheren Grauens würde idealerweise den Blick dafür schärfen, politische Projekte für die Gegenwart zu entwickeln.

Um konkrete Beispiele anzudeuten: Wenn es in der deutschen Öffentlichkeit um den Umgang mit dem eigenen Kolonialismus geht, drehen sich die Diskussion meist darum, wie genau die damaligen Verbrechen kategorisiert werden (Genozid an den Herero und Nama) oder welche Kunstgegenstände wieder in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden sollten. Mit der Anerkennung der eigenen Schuld und Ausgleichszahlungen oder der Rückgabe der Werke scheinen diese Kapitel dann zwar nicht vergessen, aber doch aufgearbeitet; ganz im Sinne des Geschichtsbegriffs, den Meister in After Evil kritisiert. Ein alternativer Ansatz wäre es, die Zusammenhänge der Geschichte als Anlass zu nehmen, zum Beispiel dem heutigen politisch-ökonomischen Ungleichgewicht zwischen Deutschland und Namibia entgegenzuarbeiten. Oder, um auf die Israel-Palästina-Thematik zurückzukommen: Der deutsche Diskurs allein kann die Situation vor Ort nicht substanziell verändern. Es wirkt dennoch notwendig, seine festgefahrenen Strukturen, die häufig den Charakter eines Selbstgesprächs aufweisen, aufzubrechen. Ein Austausch zwischen diversen Stimmen, in dem Verzweiflung und Perspektivlosigkeit von Palästinenser:innen genauso zum Ausdruck gebracht werden könnten wie berechtigte Ängste vor antisemitischer Gewalt, und in den politisch-historische Kontextualisierungen einfließen, wäre eine notwendige Vorbedingung für nachhaltige politische Verbesserungen. Ansonsten bleibt ein bedeutsames Vergessenes zurück. Das zeigt nicht zuletzt der historische Blick auf den Deutschen Herbst und seine ebenfalls verhärteten Diskursstrukturen. Grundlegende gesellschaftliche Veränderungen zum Positiven brauchen alternative Geschichtsbegriffe, abseits des hierarchisierten Menschenrechtsdiskurses und der gegenwärtigen deutschen Erinnerungskultur. Dadurch könnte sich der Nebel der schlimmen Vergangenheit lichten, der ansonsten den politischen Horizont verdeckt.

Footnotes

  1. Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn: BPB, 2007.

  2. Unter dem Begriff sind verschiedene soziale Bewegungen aus dem linken Spektrum der späten 1960er- und der 1970er-Jahre zusammengefasst.

  3. Walter Benjamin, Abhandlungen: Gesammelte Schriften Band 1.2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 695–703.

  4. A. Dirk Moses, „Der Katechismus der Deutschen,” (2021), online geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/, letzter Zugriff 23. Februar 2024.

  5. Justin Kempf, „Robert Meister Believes Justice is an Option,” Democracy Paradox (2021), online democracyparadox.com/2021/10/12/robert-meister-believes-justice-is-an-option/, letzter Zugriff 23. Februar 2024.

  6. Slavoj Žižek, Violence: Six Sideways Reflections, New York: Picador, 2008, S. 9–14.

  7. Ibid., S. 10.

  8. Robert Meister, After Evil: A Politics of Human Rights, New York: Columbia UP, 2011, S. 3.

  9. Aleida Assmann, Formen des Vergessens, Göttingen: Wallstein, 2016, S. 57.

  10. Meister, After Evil, S. 14.

  11. Fukuyama prognostizierte 1992 in seinem Buch The End of History and the Last Man, dass sich liberale Demokratie und freie Marktwirtschaft nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion endgültig und überall durchsetzen würde. In Anlehnung an die Hegel-Interpretation Alexandre Kojéves schrieb er, dass dadurch der von dem Philosophen beschriebene Kampf um Anerkennung und damit letztlich die Geschichte ende.

  12. Meister, After Evil, S. 122.

  13. Ibid., S. 14 f.

  14. Ibid., S. 179 f.

  15. Ana Teixeira Pinto, „This is why we can’t have nice things,” Journal of Visual Culture (2022), online www.academia.edu/90639931/This_is_Why_We_Cant_Have_Nice_Things_, letzter Zugriff 6. März 2024.

  16. Sultan Doughan und Hanan Toukan, „How Germany’s Memory Culture Censors Palestinians,” Jacobin (2022), online jacobin.com/2022/07/germany-israel-palestine-antisemitism-art-documenta, letzter Zugriff 23. Februar 2024.

  17. Der Begriff bezeichnet die Flucht von etwa 700.000 Menschen aus Palästina im Zuge des Krieges zwischen dem neuen Staat Israel und mehreren arabischen Nationen in den Jahren 1947–49.

  18. Michael März, Linker Protest nach dem Deutschen Herbst: Eine Geschichte des linken Spektrums im Schatten des ‚starken Staates’, 1977–1979, Bielefeld: Transcript, 2012, S. 13.

  19. A. Dirk Moses, The Problems of Genocide: Permanent Security and the Language of Transgression, Cambridge: Cambridge University Press, 2021, S. 1.

  20. Ibid., S. 42.

  21. Meister, After Evil, S. 122.

  22. Dass sich aus einer globalen Perspektive Ambivalenzen des Begriffs der Menschenrechte feststellen lassen, ist allerdings keine neue Entwicklung, wie die Zusammenhänge zwischen Aufklärung und Kolonialismus zeigen.

  23. Teixeira Pinto, „This is why we can’t have nice things”.

  24. Wolfrum, Die geglückte Demokratie, S. 268.

  25. Meister, After Evil, S. 82.

  26. Ibid., S. 69.

  27. Ibid., S. 8.

  28. Ibid., S. 61.

  29. Ibid., S. 64.

  30. Harun Farocki, Unregelmäßig, nicht regellos: Texte 1986–2000, hg. Marius Babias et al., Berlin: NBK, 2017, S. 134.

  31. Tilman Baumgärtel, Vom Guerillakino zum Essayfilm: Harun Farocki: Werkmonographie eines deutschen Autorenfilmers, Berlin: B-books, 1998, S. 172.

  32. Meister, After Evil, S. 64.

  33. Ibid., S. 226.

  34. Moses, The Problems of Genocide, S. 19.

  35. Dabei handelt es sich um eine holzschnittartige Veranschaulichung. Armut ist natürlich nur ein Beispiel und bei weitem nicht die einzige strukturelle Folge des Kolonialismus.

  36. Moses, The Problems of Genocide, S. 492f.

  37. Meister, After Evil, S. 84 f.

  38. Alberto Toscano, „The Tactics and Ethics of Humanitarianism,” Humanity, Vol. 5, Nr. 1 (2014): S. 131.

  39. Meister, After Evil, S. 47.

  40. Zitiert in Baumgärtel, S. 172.

  41. Bilder der Welt und Inschrift des Krieges, Regie: Harun Farocki, Deutschland, 1989, TC: 01:09:59–01:10:01.

  42. Ibid., TC: 01:10:03–01:10:20.

  43. Alexander Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2014, S. 38.

  44. Benjamin, Abhandlungen, S. 697.

  45. Die Patriotin, Regie: Alexander Kluge, Deutschland, 1979, TC: 01:52:49–01:52:56.

  46. Sami Khatib, „Singularitätseffekte,” in Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – die Debatte, hg. Susan Neiman und Michael Wildt, Berlin: Ullstein, 2022, S. 72. Über den Begriff der Singularität und Walter Benjamins Thesen zur Geschichte schreibt Khatib außerdem in seinem Text “No Future: The Space of Capital and the Time of Dying” in der zweiten Ausgabe von Umbau (Sami Khatib, “No Future: The Space of Capital and the Time of Dying”, Umbau (2023), online umbau.hfg-karlsruhe.de/posts/no-future-the-space-of-capital-and-the-time-of-dying, letzter Zugriff 12. März 2024).

  47. Toscano, „The Tactics and Ethics of Humanitarianism,” S. 123 f.

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Valentin Schwarz

Published on 2024-03-12 20:15